Zum Buch:
Ein Zug der Transsibirischen Eisenbahn ist auf dem Weg von Moskau nach Wladiwostok. Der letzte Waggon in der dritten Klasse ist vollgepfercht mit jungen, zwangsrekrutierten Männern, die zur zweijährigen Ausbildung an einen unbekannten Ort gebracht werden. Sie wissen, dass eine harte Zeit vor ihnen liegt, voller körperlicher und psychischer Schikanen und Quälerei. Einer von ihnen ist Aljoscha. Nachdem es ihm nicht gelungen ist, durch ein gefälschtes ärztliches Attest oder durch Bestechung vom Militärdienst freigestellt zu werden, hat er nur noch einen Gedanken: an einer der Stationen auf der Strecke zu fliehen. Sein erster Versuch in Krasnojarsk schlägt fehl, aber er folgt einer Frau, die dort zusteigt, und gelangt so unbehelligt zurück in den Zug. Als er nachts rauchend auf dem Gang steht, trifft er wieder auf sie. Hélène ist Französin, älter als er, hat ihren russischen Liebhaber Hals über Kopf verlassen und ist in den erstbesten Zug gestiegen. Über Stunden stehen sie am Fenster und rauchen, und obwohl sie keine gemeinsame Sprache sprechen, entsteht eine Art stillen Verstehens zwischen ihnen. Als Aljoscha sie dazu drängt, ihn mit in ihr Abteil in der Ersten Klasse zu nehmen gibt Hélène zu ihrem eigenen Erstaunen spontan nach und ist dadurch plötzlich zur Komplizin eines Deserteurs geworden.
Damit beginnt ein rasantes Versteckspiel, denn Aljoschas Verschwinden bleibt natürlich nicht unbemerkt, und man hat die beiden zusammen gesehen. Zwei neugierige Schaffnerinnen klopfen an die Tür und mustern das Abteil. Später wird der gesamte Zug auf Befehl des brutalen Feldwebels Letschow durchsucht, aber glücklicherweise kapitulieren die Soldaten vor der Autorität einer Schaffnerin, die ihren frisch gewischten Fußboden vor einer Toilette verteidigt und ihnen den weiteren Weg verwehrt …
Die Geschichte lebt von Gegensätzen: zwischen der klaustrophobischen Enge des Zugs und der unermesslichen Weite der sibirischen Landschaften vor den Fenstern, zwischen dem jungen Mann aus einem Zwangssystem und der älteren, unabhängigen Frau aus dem Westen, zwischen der Fremdheit zweier Unbekannter und einer seltsamen, unerklärlichen Nähe, zwischen der rasanten Handlung und einer ruhigen, einfühlsamen Sprache, die beides vereint, Tempo und Tiefgang, Härte und Poesie. Das Buch ist im französischen Original 2012 erschienen, zwei Jahre vor der Besetzung der Krim durch russisches Militär, aber der Text ist beklemmend aktuell. Weiter nach Osten ist ein schmales Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt und das einen länger beschäftigt, als es dauert, die neunzig Seiten zu lesen.
Ruth Roebke, Frankfurt a. M.