Zum Buch:
England Ende der 60er Jahre: Marigold Daisy Green, genannt Bilge, 17 Jahre alt, nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrem Vater aufgewachsen, der eine gehobene Position an einer Internatsschule im Norden Englands innehat, steckt in den Nöten der Pubertät und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung für ein College in Cambridge vor. Der Vater liebt und liest die Klassiker der Antike und schweigt meistens, ob am Rand des Schwimmbeckens, in dem seine Tochter in den Schulferien Bahnen schwimmt, oder beim gemeinsamen Schachspiel, bei dem sich die Unterhaltung auf den Austausch einzelner Wörter beschränkt. Seine einzige Gesellschaft sind drei äußerst skurrile alte Herren, die jeden Donnerstagabend vorbeikommen und deren Gespräche selten Sinn ergeben. Und dann ist da noch Paula, die Hausmutter des Internats, die sich mit viel Wärme und Humor um die Jungen kümmert und Bilge mit ebenso viel Wärme aufgezogen hat. Keine besonders aufregende Umgebung für eine Siebzehnjährige, die sich zudem nicht wie ihre Schulkameradinnen für Mode und Jungs interessiert, sondern für Mathematik und einsame Spaziergänge. Nimmt man die Tatsache hinzu, dass sie stark weitsichtig ist und eine entsprechend dicke Brille trägt, orangerote Haare hat und ihre Garderobe von Paula bezieht, deren Standards in den fünfziger Jahren hängengeblieben sind, lässt sich das Ausmaß ihrer Außenseiterposition leicht vorstellen. Das ändert sich mit der unerwarteten Rückkehr einer Kindheitsfreundin. Grace platzt wie eine (Sex-) Bombe in die nordische Provinz und nimmt sich Bilge zunächst schwesterlich an: geht mit ihr zum Friseur, kauft mit ihr Klamotten und Schuhe, rät ihr, die Brille wegzulassen. Und so wird aus dem hässlichen Entlein ein schöner Schwan. Doch damit fangen die Probleme erst richtig an …
Nun könnte man annehmen, Tage auf dem Land sei ein typischer Coming-of-age-Roman der eher klischeehaften Sorte, ein Einwand, der schon auf der ersten Seite durch die Selbstbeschreibung der Protagonistin und Ich-Erzählerin endgültig entkräftet wird: „Ich trat in dieses endlose Meer aus Jungen und Lehrern an der Schule meines Vaters … als weitsichtiges, froschartiges Urgetüm mit orangen Haaren, ein quadratisches und ernstes Baby, eine klobige, in die Gegend blinzelnde Zweijährige mit wackliger Pupille …, eine finstere Zehnjährige, die im Kreuzgang der Schule herumlungerte …, und eine seltsame, dickliche, hoffnungslose Pubertierende, ohne Freunde und mit einem Hang zu langen Streifzügen am Meer.“ Hier wie im ganzen Buch gelingt es Jane Gardam, in der Erzählerinnenfigur zwei Perspektiven zu verbinden: die Perspektive der jungen Bilge auf sich und die Welt und die der erwachsenen Autorin, die sich liebevoll an eigene Pubertätsnöte erinnert. Damit zieht sie uns hinein in eine fast schon surreale Welt aus stocksteifer Tradition, guten Sitten und all den sich darunter verbergenden sexuellen und anderen Dramen der „guten Gesellschaft“, genießt die satirischen Elemente und die ungeheure Komik, ohne die Tragödien dahinter zu verraten, und folgt der so eigenwilligen wie eigensinnigen, so willensstarken wie störrischen, so selbstbewussten wie unsicheren Heldin auf den verschlungenen Wegen der Pubertät. Und das ganze eingepackt in einen Prolog, der auf die falsche Fährte lockt, und einen Epilog, der einem eine lange Nase dreht. Tage auf dem Land gehört zu den Büchern, von denen man hofft, dass sie nie aufhören mögen, und ich kann die Lektüre nur dringend empfehlen. Vor allem aber hoffe ich, dass auch alle anderen Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher dieser großartigen Autorin möglichst bald ins Deutsche übersetzt werden!
Irmgard Hölscher, Frankfurt a.M.