Zum Buch:
Mit einer Verabredung zwischen der namenlosen Erzählerin, einer erfolgreichen, mittelalten Schauspielerin, und Xavier, einem wesentlich jüngeren, gutaussehenden Mann, in einem übervollen Restaurant beginnt der neueste Roman der amerikanischen Autorin Katie Kitamura. Er könnte ihr Sohn sein. Oder ihr Liebhaber. Die Ich-Erzählerin deutet die missbilligenden Blicke der anderen Gäste als Ausdruck der zweiten Hypothese. Was Xavier in den Minuten des gemeinsamen Gesprächs erst stockend, dann aber doch überzeugend vorbringt, ist seine Vermutung, dass er ihr Sohn ist. Da die Erzählerin weiß, dass sie zwar vor langer Zeit einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließ, nie aber ein Kind geboren hatte, zögert sie nur einen wirklich kurzen Augenblick. Was wäre gewesen, wenn?
Zeitgleich sieht sie erstaunt, dass ihr Mann Tomas – den sie wie immer um diese Zeit an seinem Schreibtisch vermutet – das Restaurant suchenden Blickes betritt, zögernd, stutzend. Hat er sie vielleicht dort sitzen sehen mit Xavier und das Restaurant nahezu überstürzt wieder verlassen? Wer wollte wem nicht begegnen? Wer verbirgt hier was?
Nach exakt der Hälfte des Romans fällt der Vorhang, und Teil Zwei beginnt. Jetzt sitzen die Erzählerin, Tomas und ihr erwachsener Sohn Xavier zusammen an einem Tisch und stoßen auf den bahnbrechenden Erfolg des neuen Theaterstücks an, das alle Erwartungen übertroffen hat und bei Kritikern und Publikum gefeiert wird. Die Wohnung, zuvor einträchtig zweisam von Tomas und der Erzählerin bewohnt, ist Ort des sich nun entwickelnden und langsam an Fahrt aufnehmenden Kammerspiels. Aus unterschiedlichen Gründen bittet Xavier darum, vorübergehend wieder in sein altes Zimmer ziehen zu dürfen, natürlich als Übergangslösung und nur für kurze Zeit. Wie sich die anfangs etwas zögerliche Haltung der drei Personen, wieder als Familie zu leben, Stück für Stück zu etwas völlig anderem entwickelt, ist von Katie Kitamura so überzeugend geschildert, dass die Metamorphose der Beteiligten absolut glaubhaft wirkt.
Außergewöhnlich präzise beschreibt die Autorin die plötzliche Auflösung, ja nahezu Verpuffung eines stabil geglaubten Familiengefüges. Gemeinsame Erlebnisse und jahrzehntelange Routinen schrumpfen rasant, zerfallen in dem Augenblick zu Staub, als die Mitglieder der Kleinfamilie sich aus der Vereinbarung des geteilten Familiengefühls zurückziehen. Nicht nur Fremdheit tritt an die Stelle des Vertrauten, sondern von einem zum anderen Moment tut sich eine schier unüberbrückbare Kluft auf. „Er war wie ein vertrauter Fremder, jemand, den man seit einer Ewigkeit kannte, wenn auch nur flüchtig, (…), so dass die Vertrautheit, die man zu spüren meinte, stets etwas Gedämpftes, stets etwas Getrübtes, stets etwas Beängstigendes an sich hatte.“
Katie Kitamuras fast klinisch distanzierter Ton, in dem sie menschliche Ausnahmezustände beschreibt, erzeugt einen ungeheuren Sog und ein unterschwelliges Bedrohungsgefühl. Was ist Projektion, was Wahrheit, und wer entscheidet, welche Rolle wir spielen? Ist es nicht immer eine Frage des Blickwinkels auf Personen, Handlungen, Situationen?
Schon in ihren Romanen Trennung (2017) und Intimitäten (2022), beide auf Deutsch bei Hanser erschienen, spielte Kitamura auf virtuose und teilweise verstörende Weise mit den Motiven von Nähe und Distanz, Projektion und Wahrheit. Auch deswegen kann man Die Probe als brillanten Roman im Theatermilieu oder psychologischen Thriller lesen, der seit Kurzem auf der Longlist des Booker Prize steht.
Larissa Siebicke, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt