Zum Buch:
Reisenden in den Libanon wird vom Auswärtigen Amt „zu besonderer Vorsicht und erhöhter Aufmerksamkeit“ geraten. Stanisław Strasburger, der 1999 zum ersten Mal Tripoli besuchte, war von Land und Menschen so gebannt, dass aus vielen folgenden Reisen ein Buch entstanden ist. Ein Buch, in dem der Autor dazu einlädt, dieses Land kennenzulernen, das Europa in Sachen Multikulturalität an Erfahrung um Jahre, ja Jahrzehnte voraus ist.
Orient und Okzident, „wir hier“ und „die dort“, das ist das herkömmliche Denken, das Straßburger mit seiner Sachbuchfiktion brechen will. Der Text – zweigeteilt in Impressionen und Porträts – ist wie ein Puzzle gestaltet, dessen Einzelteile sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Vielfalt und Perspektivenwechsel kennzeichnen die Mischung aus romanhafter Dreiecksgeschichte eines Ich-Erzählers zwischen zwei Frauen, Reiseberichten, historischer Geschichtsschreibung, Zeitungsartikeln, Fragmenten aus Gedichten des libanesischen Dichters Khalil Hawi, Internettexten, Reden, Flugblättern und Interviews. Auf eine lineare Kontinuität wird verzichtet, der eingeübte Blickwinkel soll verlassen werden. Politische und gesellschaftliche Hintergründe sind nicht eindimensional erklärbar, sie bauen sich in Schichten auf. Aus den namenlosen Opfern der Attentate werden Menschen. Viele Facetten des Lebens im Libanon werden hier zusammengetragen –jede einzelne für sich wertvoll. In seiner eigenwilligen Zusammenstellung verhindert der Text im besten dekonstruktivistischen Sinn eine geschlossene, eindeutige Beurteilung der gegenwärtigen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Situation des Landes. Was Strasburger hier postuliert, ist – neben einem unverstellten Blick – das Ende jeder Form interessengesteuerter Geschichtsschreibung.
Im zweiten Teil des Buches („Porträts“) kommen andere Menschen zu Wort, die im Libanon gelebt haben, dort aufgewachsen oder geboren sind: Roy aus Bischarra erzählt vom Wilden Westen und den Anfängen des Wintersports in Les Cèdres, und Richard, emeritierter Diplomat und polnischer Beauftragter der UNIFIL, kommentiert sogenannte „Friedenseinsätze“. Sonia, eine Französin, die in der Entwicklungshilfe arbeitet, klärt über die Diskrepanz von Realität und Darstellung in den Medien auf und die libanesische Palästinenserin und Psychologin Lin lotet die tiefe Kluft zwischen Libanesen und Palästinensern aus. Erschütternd in seiner Nüchternheit ist der Bericht des palästinensischen Flüchtlings und PLO-Mitglieds Joseph über seine Gefangenschaft in Foltereinrichtungen des syrischen Sicherheitsdienstes.
Dient „Besessenheit. Libanon“ als Vorbereitung für eine Reise in den Libanon? Ja durchaus, aber nicht in der Funktion eines herkömmlichen Reiseführers für herkömmliche Touristen. Das hochgradig informative Buch lädt dazu ein, dem groß angelegten, zu allen Seiten hin offenen Puzzle eigene Beobachtungen hinzuzufügen.
Susanne Rikl, München