Zum Buch:
Schon vor vielen Jahren hat das Leben für den 59 jährigen Hartz—Empfänger Hans D. jeglichen Sinn verloren. Als „behauster Obdachloser“ wohnt, oder besser gesagt: vegetiert er ohne Ziel und Antrieb und ohne nennenswerte Kontakte zu anderen Menschen in einem Wohnblock einer namenlosen Stadt vor sich hin. Er verwahrlost, wäscht weder sich noch seine Kleider, stinkt ebenso wie seine Wohnung. Begehbare Schneisen zwischen Bergen von dreckiger Wäsche, überquellenden Müllsäcke und leeren Bierflaschen verbinden Kühlschrank, Fernseher, Bett und Toilette. Hans ekelt sich vor sich selbst, bemitleidet sich aber auch. So wird sogar das Ausfüllen des Antrags auf Verlängerung seiner Unterhaltszahlungen, der fristgerecht eingereicht werden will, zur kaum lösbaren Aufgabe. Das einzige, zu der er sich an dem Morgen, mit dem die Handlung des Romans einsetzt, aufraffen kann, ist es, einen Teil der Müllsäcke zu den Tonnen zu bringen. Dieser Gang wird zum Wendepunkt in seinem vertrackten Leben.
In einer der Mülltonnen findet er ein geschwächtes, leise vor sich hin wimmerndes Baby. Spontan nimmt er das Kind an sich und beschließt, es zu behalten und aufzuziehen. Fast gleichzeitig muss er sich jedoch eingestehen, dass dieser Entschluss in seinem Zustand und bei seinem Aussehen kaum lösbare Probleme mit sich bringt: Wie und wo soll er Babynahrung, Windeln und Kleidung besorgen? Wie soll er erklären, wessen Kind das ist und wie es zu einem wie ihm kommt? Was soll er tun, wenn das Kind einen Arzt braucht? Was soll er tun, wenn das Kind schulpflichtig wird? Aber mit den Problemen der Zukunft will er sich zu gegebener Zeit beschäftigen. Zunächst muss er das Kind, ein Mädchen, dem er den Namen Felizia gibt, füttern, waschen, wickeln und neu einkleiden.
Hans weiß sich zu helfen, und er bekommt Hilfe von unerwarteter Seite. Die neue Aufgabe und die Anteilnahme, Hilfsbereitschaft und das Interesse – auch an ihm selbst – einiger Menschen aus seinem Umfeld helfen ihm, die Isolation zu durchbrechen. Hans wird nicht nur optisch ein neuer Mensch, er sieht in seinem Dasein auch wieder einen Sinn. Spätestens jedoch, als er durch die Medien von der Festnahme der Mutter und ihrem Geständnis erfährt, das Kind getötet zu haben, kommen ihm große Zweifel, ob er an seinen Plänen festhalten soll …
Steven Uhly thematisiert moralische Dilemmata und eine Vielzahl sozialer Probleme, ohne dabei zu moralisieren oder zu (ver-) urteilen. Seinen Figuren gewährt er überraschende Haltungen und Entwicklungen. Auch nach seinem dritten, für mich bisher besten und zugänglichsten Roman, lässt er sich weder auf ein bestimmtes Genre noch einen vorhersehbaren Schreibstil festlegen. Jedes Buch ist anders. „Glückskind“ hat ein überraschendes, man könnte auch sagen: märchenhaftes Ende, das aber nicht verraten werden soll. Ich freue mich auf weitere Bücher dieses beachtenswerten Autors.
Ralph Wagner, Ypsilon Buchladen & Café