Zum Buch:
In einem medizinischen Institut “am Ende der Welt” hantiert Rudolf Iwanowitsch Mayer, Mitarbeiter des Instituts für Pestforschung in Saratow, in Schutzkleidung an Zellkulturen mit Pesterregern. Ein Telefonanruf, der ihn nach Moskau zu einer verfrühten Präsentation seiner Ergebnisse ruft, ein unbedachter Handgriff –, und die Pest reist mit Mayer unerkannt im Zug in die Hauptstadt, wo sie beginnt, sich innerhalb kürzester Zeit durch seine Kontakte zu verbreiten. Als Mayer mit Schüttelfrost, Fieber und Atemnot in ein Krankenhaus eingeliefert wird, hat der diensthabende Arzt schnell den Verdacht auf Lungenpest, leitet erste Quarantänemaßnahmen ein und gibt die wenigen Kontakte weiter, die er von dem phantasierenden Kranken noch erfahren konnte. In atemberaubender Geschwindigkeit folgen daraufhin Telefongespräche mit immer höheren Ebenen bis hin zum “Sehr mächtigen Mann”. Dort wird beschlossen, für die Überwachung und Eindämmung des Infektionsgeschehens die mächtigste und effektivste Behörde der UdSSR einzusetzen: den NKWD, Stalins gefürchteten Geheimdienst.
So schwärmen in den folgenden Tagen und Nächten die dunklen, allseits bekannten Wagen aus, und es geschieht, was jedermann weiß und was alle fürchten: es klingelt an den Türen, und Menschen werden ohne Angaben von Gründen abgeholt. Wer zurückbleibt, gerät in Angst – um die Verschleppten, aber genauso um sich selbst –, da jeder fürchten muss, als nächstes in Stalins Gefängnissen und Folterkellern zu landen.
1978 verfasste die russische Schriftstellerin Ludmila Ulitzkaja das Szenario über einen wenig bekannten Ausbruch der Pest in Moskau im Jahr 1939, der wirklich stattgefunden hatte. Ulitzkaja, die Biologie studiert und als Genetikerin gearbeitet hatte, hatte von der Tochter des Pathologen, der die damals verstorbenen Menschen obduziert hatte, davon erfahren. Das Szenario war für die Aufnahme in einen Drehbuchgrundkurs gedacht, wurde abgelehnt und landete in der Schublade.
2020, unter den Eindrücken der Corona Pandemie, hat Ludmilla Ulitzkaja den Text veröffentlicht. Eine Seuche in der Stadt – ein schmales Bändchen mit knapp über 100 Seiten – ist ein beklemmendes Zeugnis des schnellen und absolut erfolgreichen Sieges über die Seuche. “Vermutlich war dies das einzige Mal in der Geschichte dieser brutalen und rücksichtslosen Organisation (des Geheimdienstes), dass sie dem Wohl des Volkes diente und nicht seiner Einschüchterung und Vernichtung” schreibt die Autorin in einem kurzen Nachwort.
Nicht nur die Aktualität der Corona-Pandemie macht diesen Text zu einer fesselnden Lektüre. Seine formale Struktur als Gerüst für einen Film gibt dem Buch ein rasantes Tempo, da jede Ausschmückung, jede tiefer gehende Psychologisierung der Personen, jede atmosphärische Schilderung oder Nebenhandlung fehlen. Ausschließlich knappe Beschreibungen der Orte und Personen sowie die Dialoge treiben die Handlung voran. So lässt der Film, der nie gedreht wurde, dem Leser viel Raum für seine eigenen Bilder, Phantasien und Gedanken. Zurück bleibt das Gefühl, dass der Preis für die Effizienz bei der Eindämmung der Seuche, nämlich ein Leben unter ständiger Überwachung und Angst, und das nicht nur für eine – hoffentlich – begrenzte Zeit, zu hoch ist. Nach dieser Lektüre schaut wohl niemand mehr sehnsüchtig darauf, wie schnell die Seuche in China unter Kontrolle war und wie “normal” das Leben dort inzwischen angeblich ist.
Ruth Roebke, Bochum