Zum Buch:
Wollte man das Leben Daniel Steins nacherzählen, bräuchte man schon dafür mehrere Seiten. So müssen Stichworte genügen: Polnischer Jude, Dolmetscher bei der Gestapo, Fluchthelfer für hunderte von Juden aus dem Ghetto, untergetaucht in einem Nonnenkloster, zum Katholizismus konvertiert, Partisan. Nach dem Krieg beim NKWD, dann Karmelitermönch, Einwanderung nach Israel. Dort gründet er eine jüdisch-katholische Gemeinde. Er liest die Liturgie in der einzigen Sprache, die all seine Gemeindemitglieder, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammen, verstehen, also in Hebräisch, lässt das Credo und andere Teile der Liturgie weg und legt sich damit gleichermaßen mit seiner Kirche und mit sämtlichen orthodoxen Strömungen im Land an. Er stirbt bei einem Autounfall, dessen Ursache nicht eindeutig geklärt werden konnte.
Für die Figur des Daniel Stein gibt es ein historisches Vorbild, den Karmelitermönch Daniel Rufeisen. Dass Ludmilla Ulitzkaja dessen Leben nicht einfach nacherzählt, sondern fiktionalisiert, gibt ihr die Freiheit, seine Geschichte aus unterschiedlichsten Stimmen und Dokumenten, realen und erfundenen, zusammenzusetzen. In Berichten, Tagebüchern, Zeitungsnotizen, Vorträgen, Dialogen und Erinnerungen kommen zahlreiche Menschen zur Sprache, und bei allen hat die Begegnung mit ihm etwas ausgelöst, hat sie im Innersten berührt, ob im Guten oder im Bösen. Und da sich Stein zum Glauben bekehrt hat, kreisen auch die Geschichten und Schicksale häufig um das Thema Glauben: konfessionsgebundener Glaube genauso wie der Glaube an sich selbst, an das Leben, an menschliche Begegnungen, an Liebe.
Passagenweise kann das Lesen durchaus Unbehagen auslösen. Die detaillierten Auseinandersetzungen über die Frage, was in welcher Religion wie gedeutet, welche Quellen die einzig wahren sind und warum, warum Liturgien nur in einer und nicht in anderen Sprachen möglich sind, könnten manchmal langatmig, vor allem aber aberwitzig anmuten wenn man nicht wüsste, dass Menschen um dieser kleinen Unterschiede willen bereit sind, andere auszugrenzen, aufeinander einzuschlagen, sich umzubringen, weil es in ihren Augen eben um unverrückbare Wahrheiten geht. Wie brüchig sie sind, zeigt sich in genau diesem Verhalten. Das ist niederschmetternd, macht die Lektüre aber auch interessant und berührend. Ulitzkaja ist wieder einmal, wie auch schon in ihren anderen Büchern, eine begnadete Erzählerin des prallen Lebens, die durchaus Raum für Komik lässt.
Wäre da nicht die Hauptfigur Daniel Stein, könnte man das Buch für ein furioses Plädoyer gegen jede Art von religiösem Glauben halten. In Daniel Stein jedoch zeigt sich ein möglicher Ausweg. Da sein Glaube aus seinem tiefsten Inneren kommt, kann er anderes gelten lassen und statt nach Abgrenzung nach dem Verbindenden suchen, unabhängig von katholischem, orthodoxem, jüdischem, muslimischem Glauben. Denn im Kern ist sein Glaube nichts weiter als eine tief empfundene Humanität, die Raum lassen kann für Andere. Das mag angesichts des normalen Wahnsinns in Israel vielleicht platt erscheinen, ist aber, wie man sieht, nicht selbstverständlich.
Ruth Roebke, Autorenbuchhandlung Marx & Co., Frankfurt