Zum Buch:
Nachdem sich die Siegermächte im November 1918 auf eine Aussetzung der Kampfhandlungen geeinigt hatten wurde erst ein halbes Jahr später mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags im Spiegelsaal von Versailles der Erste Weltkrieg offiziell für beendet erklärt.
Für die politische Ausrichtung der noch jungen Republik geriet das sogenannte Schanddiktat von Versailles zur ersten Belastungsprobe, da der Großteil der Bevölkerung weder gewillt war, die alleinige Schuld Deutschlands für den Ausbruch des Krieges noch die enormen Reparationsforderungen anzuerkennen, deren Gesamtsumme sich zunächst auf 226 Milliarden Goldmark bezifferte. Da jedoch die Vereinigten Staaten auf die Rückerstattung ihrer Kredite drängten, stießen in den kommenden Jahren bei den Siegermächten sämtliche Gegenvorschläge aus Berlin auf rigorose Ablehnung, was schließlich dazu führte, dass belgische und französische Truppen im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzten, um sich somit den Zugriff auf die Kohlevorkommen zu sichern.
Angesichts der zeitgleichen rapiden Geldentwertung steigerte sich der Unmut unter der deutschen Bevölkerung. Im Sommer 1923 kostete ein Brathering 75.000 Mark, ein Kinobillet 50.000, und die Preise für Fleisch, Brot und Mehl stiegen ins Unermessliche. Vielerorts kam es daher zu ersten Demonstrationen, Geschäfte wurden geplündert, Hungerstreiks organisiert, Bahngleise gesprengt. Nutznießer der katastrophalen Wirtschaftslage waren neben Großunternehmern wie Stinnes vor allem Amateurspekulanten oder als Inflationsheilige bezeichnete Hochstapler, die ihre verblendeten Anhänger um deren Ersparnisse prellten. Die Kleinkriminalität wuchs in einem bisher ungekannten Ausmaß, ebenso wie das Bettlertum und die Prostitution. Das unbändige Verlangen, sich zu amüsieren und das Geld auszugeben, bevor es weiter an Wert verlor, war allgegenwärtig. Jeder war sich selbst der Nächste; Judentum und sozialdemokratische Politiker wurden in aller Öffentlichkeit als Verräter diskreditiert, was wiederum dem Erstarken der nationalsozialistischen Bewegung in die Hände spielte.
In Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund überzeugt der renommierte Journalist, Autor und Historiker Volker Ullrich erneut durch einen profunden Kenntnisstand, der auf leicht zugängliche Weise sowohl die Vorgeschichte wie auch die katastrophalen Auswirkungen der damaligen Ereignisse berücksichtigt. Selbst wenn er die Aufmerksamkeit zuweilen auf Nebenschauplätze lenkt gelingt es ihm dennoch, den Wissensdurst einer interessierten Leserschaft zu stillen, indem er mit der ihm eigenen Schreibweise einen regelrechten Spannungsbogen aufbaut, der zu keinem Zeitpunkt abzubrechen droht. Deutschland 1923 zählt für mich zweifelsohne zu den erhellensten Fachbüchern des Jahres 2022 und ist ein Muss all jene, die sich mit der Geschichte der Weimarer Republik auseinandersetzten.
Axel Vits, Köln