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Autor
Winter, Rainer

Die Kunst des Eigensinns

Untertitel
Cultural Studies als Kritik der Macht
Beschreibung

Seit einigen Jahren breitet sich auch in deutschen Universitäten ein Forschungszweig aus, der in Großbritannien seine Wurzeln hat, und dem solche vermeintlichen Kleinigkeiten wesentlich sind: Cultural Studies. Rainer Winters Studie befaßt sich mit der politischen Dimension der Forschung wie der Kulturphänomene, die sie analysiert.

Verlag
Velbrück, 2001
Format
Gebunden
Seiten
388 Seiten
ISBN/EAN
978-3-934730-42-7
Preis
19,90 EUR

Zum Buch:

Sich die Gesichtspartien mit Sicherheitsnadeln oder Designerpiercings zu verzieren, als Autonomer inlineskatend den eigenen Körper in Takt zu halten oder im Unterhemd einfach den Fernseher auszuschalten, sobald der Kanzler spricht: Alles das sind Praktiken von Bedeutung. In ihrem je eigenen Kontext verhalten die Handlungen Einzelner sich zu gesellschaftlichen Machtstrukturen, reagieren auf sie affirmativ, widerständig oder ambivalent. Einen Konzertbesuch, das Tragen spezieller Kleidung oder die Gewohnheiten bestimmter Kleingruppen galten den zuständigen Wissenschaften nicht gerade als vordringlichstes Problem politischer Relevanz. Seit einigen Jahren aber breitet sich auch in deutschen Universitäten ein Forschungszweig aus, der in Großbritannien seine Wurzeln und in Australien und den USA seine beliebigsten Ableger hat, und dem solche vermeintlichen Kleinigkeiten wesentlich sind: Cultural Studies. Dabei geht es um das Wesen der Dinge aber eigentlich nie. Mit seinen Ursprüngen im undogmatischen Marxismus der New Left, haben die Cultural Studies sich in den knapp fünf Jahrzehnten ihres Existierens insbesondere feministische und poststrukturalistische Ansätze angeeignet, mit denen sie nicht nach Essenzen sondern nach Zeichen und der fortwährenden Verschiebung ihrer Bedeutungen suchen. Rainer Winter charakterisiert sie zu Recht als Forschungsrichtung und politische Bewegung zugleich, deren Hauptaugenmerk sozialen und politischen Fragestellungen gilt. Insofern unterscheiden sie sich auch von einem großen Teil der ethnographisch orientierten kultursoziologischen Forschung in Deutschland. Kultur wird in den Cultural Studies nicht als Konglomerat von Werken oder Tun einer künstlerischen Elite gefasst, sondern als prozesshaft bestimmt. Sie gilt selbst als “produktive Kraft” und Kampfplatz von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. So verstanden sind also auch die eingangs erwähnten alltäglichen Praktiken von politischem Gewicht. Denn Kultur spiegelt nicht bloß Sozialstruktur und determiniert auch nicht das Verhalten der Subjekte. Theoretisch versuchen die Cultural Studies mit diesem Kulturverständnis immer wieder zu vermitteln zwischen den großen sozialwissenschaftlichen Gegensätzen von Kultur und Sozialem, Handlungsmöglichkeiten und Struktur, Mikro- und Makroebene. Inwiefern sie dieses Programm auch umzusetzen vermag, verdeutlicht die von Winter geschilderte Genese und konkrete Projektarbeit der Forschungsrichtung. In den nachgezeichneten Studien zu Populärkultur und Konsumverhalten tritt darüber hinaus der politische Anspruch zu Tage, den Subordinierten ein Sprachrohr zu sein. Und an diesem Anliegen setzt Winters eigene Arbeit an, die die Cultural Studies insgesamt als “Kritik der Macht” darstellen will. Dadurch, dass sie den auch in Horkheimers und Adornos Kulturindustriethese vernachlässigten, weil als passiv, gefügig und kolonisiert betrachteten individuellen Aneignungen und Artikulationen Gehör verschaffen, zeichnen sich die Cultural Studies laut Winter als politisches Projekt aus. Sie wirken subversiv, indem sie im Anschluss an Michel Foucault nicht nach Wahrheit suchen, sondern Wahrheiten produzieren wollen, die sowohl Kultur verständlich machen als auch im Alltag anschlussfähig sein sollen. Winters Ansatz liegt eine postmoderne Zeitdiagnose zu Grunde. Dieser gilt die These der “reflexiven Modernisierung” (Beck, Giddens) noch zu sehr als auf Institutionen bezogen und die kulturelle Dimension sozialen Handelns vernachlässigend. Zwar hat der Mainstream der gegenwärtigen Soziologie in Deutschland sich nicht einmal in Richtung cultural turn geneigt und enthält sich damit sicherlich einige Erklärungskraft vor. Dennoch ließe sich fragen, ob ausgerechnet eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung dazu angetan ist, die Defizite in der Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen angemessen auszugleichen. Indem er sich schwerpunktmäßig den Arbeiten des Sozialkonstruktivisten John Fiske widmet, legt Winter zumindest nahe, dass sich die Kritik der Macht vornehmlich darin äußert, den Deklassierten zu Artikulationsmöglichkeiten zu verhelfen. Um aber die neoliberale Flexibilität bei der Konsumwahl noch von selbstbestimmter und selbstbestimmender Rebellion unterscheiden zu können, mahnt Stuart Hall, ein anderer der maßgeblichen Vertreter/-innen von Cultural Studies, die materiellen Grundlagen nicht aus den Augen zu verlieren. Die Verteilung der Ressourcen also, mit denen die Marginalisierten sprechen, löst sich nicht in das Wohlgefallen sozialer Gleichheit auf. Inwiefern also Phänomene der Popkultur soziale Identitäten schaffen können, die sich einem Machtblock entziehen, muss immer wieder aufs Neue geprüft werden. Als Bereicherung für Milieuforschung einerseits und Handlungsanalyse andererseits können die Cultural Studies also gleichermaßen fungieren. Winters Verdienst liegt darin, diese Möglichkeiten detailliert offen gelegt und einmal mehr für die Frage sensibilisiert zu haben, ob, inwiefern, wann und wo es sich beim Durchlöchern des Körpers, dem Zappen oder Skaten um eigensinnige Kunst oder doch nur das Agieren von Personen handelt, die zu “drei Viertel Automaten” (Bourdieu) sind. Jens Kastner (aus: listen no 64)