Zur Autorin/Zum Autor:
Wilfried Witte wurde 1965 im Emsland geboren. Er ist Historiker, Autor und arbeitet als Anästhesist im Berliner Benjamin-Franklin-Klinikum.
Die Geschichte der Spanischen Grippe ist kein abgeschlossenes Kapitel, Wilfried Witte, der Arzt und Historiker, erklärt in seiner ausnehmend gut geschriebenen Biografie der Influenza, warum das so ist.
Mir hat mal ein Arzt erzählt, das beste Mittel, einer Grippe oder sonst einer Infektion vorzubeugen, sei regelmäßiges Händewaschen.
Am 27. Mai 1918, inmitten der Wirren des Ersten Weltkriegs, geht bei der internationalen Nachrichtenagentur Reuters ein Kabel aus dem neutralen Spanien ein. Der Text lautet: »Eine merkwürdige Krankheit mit epidemischem Charakter ist in Madrid aufgetreten. Diese Epidemie verläuft harmlos, keine Todesfälle bisher gemeldet.« Bis zum Jahresende werden weltweit mehrere Millionen Menschen an der merkwürdigen Krankheit, die man seitdem die Spanische Grippe nennt, qualvoll sterben.
Die erste Welle nahm ihren Ausgang angeblich im Bundesstaat Kansas, genauer gesagt in Camp Funston, einem Ausbildungslager der U.S. Armee, in dem unbeschreiblich miserable Hygienezustände herrschten. An Bord von Truppenschiffen erreichte die Grippe schon bald darauf den europäischen Kontinent, wo sie in den Schützengräben wütete und von wo aus sie ihren anschließenden Siegeszug über den gesamten Globus antrat, für den sie gerade mal fünf Monate benötigte.
Ob nun Abführmittel oder Aderlaß, Fliedertee oder Whisky, Opium, Tollkirschen oder Blutegel, jeder Kulturkreis setzte die Mittel ein, die ihm als die wirksamsten erschienen, doch am Ende war alles nutzlos, der Virus breitete sich weiter aus und die Menschen starben wie Eintagsfliegen. Im August desselben Jahres dann ein kurzes Atemholen. Schon kam die zweite, noch verheerendere Welle angerast. Und als sei das noch nicht genug, wälzte sich im Frühjahr 1919 dann eine dritte Welle über den Globus.
Man schätzt heute, daß 50 bis 70 Millionen Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer fielen, wobei man bedenken muß, daß bisher keine bzw. kaum verläßliche Zahlen aus dem bevölkerungsreichen China vorliegen. 2005 hat man festgestellt, daß es sich bei der Spanischen Grippe um ein Virus handelte, das nicht von Schweinen, vielmehr direkt von Vögeln auf den Menschen übertragen wurde, und man geht davon aus, daß »wegen der ungleich entwickelteren Transportwege in der globalisierten Welt« die nächste Pandemie »die Spanische Grippe in ihrer verheerenden Auswirkung noch um ein Vielfaches übertreffen könnte«. Wilfried Witte, der Arzt und Historiker aus Berlin, hat mit Tollkirschen und Quarantäne eine Art essayistische Biografie der Influenza geschrieben. Umgangssprachlich gesagt, mit viel Pep. Das ist hochbrisantes Fachwissen vom Feinsten, und gleichzeitig angenehm flüssig zu lesen.
Axel Vits, Der andere Buchlanden, Köln