Zum Buch:
Mareike Krügels neuer Roman handelt von Matthias Harms, einen in der Fachwelt angesehenen Psychotherapeuten, spezialisiert auf den Umgang mit Zwangsneurosen. Ihm bricht aus verschiedenen Gründen der Boden unter den Füßen weg. Mehrere Deutungen bieten sich als Begründung an und es ist durchaus nicht ausgemacht, welcher der Vorrang gebührt. Da taucht als Thema, subtil in die Erzählung eingesponnen, Harms unverarbeitete Trauer über den Unfalltod der Schwester auf, der mehrere Jahre zurückliegt. Natürlich ist Harms jemand, der professionell, mit seelischen und psychischen Krisenerfahrungen umgehen kann. Bei eigener Betroffenheit ist das aber offenbar, niemand wird sich wundern, anders. Mit einer kleinen Akzentverschiebung könnten Erziehung und Elternsein (und die Folgen) in den Vordergrund rücken interessanterweise aus der recht abstrakten Perspektive eines kinderlosen fünfzigjährigen Mannes, der allerdings eindrückliche Erfahrungen als Sohn und Bruder mitbringt. Oder geht es nur um das Verhältnis zur Partnerin, um Ausgesprochenes, Gewohntes und Ungesagtes oder; noch reduzierter, um einen ironischen Blick auf eine Berufsgruppe?
Matthias Harms jedenfalls wird als Referent zu einer psychotherapeutischen Fachtagung nach Meran eingeladen. Alles läuft für ihn bestens. Im Beruf ist er anerkannt; sein Privatleben mit der Sozialarbeiterin Anke ist seit vielen Jahren etabliert. Eigentlich fühlt er sich bei Referaten wie ein Fisch im Wasser, genießt seine Rolle als Experte. Doch diesmal ist es anders. Harms fremdelt, als er das Tagungshotel betritt und auf die ersten Teilnehmer trifft er quält sich unentspannt durch das Abendprogramm, findet keinen Kontakt zu Gesprächsthemen und Personen. Sollte das daran liegen, dass sein Freund nicht an der Tagung teilnimmt, weil er seine schwangere Freundin nicht allein lassen möchte?
Am Abend trinkt Harms zu viel die Verwirrung, Unausgeglichenheit verschwindet auch nachts nicht. Deshalb entscheidet er sich am nächsten Morgen für einen Spaziergang. Er möchte seine Konzentration wiedererlangen, doch so richtig wird das nichts. Als er zufällig eine junge Frau mit Kleinkind trifft, wäre es fast zu einer Affäre gekommen, hätte sich nicht plötzlich herausgestellt, dass sie die Tochter des Partners seiner vor Jahren bei einem Unfall verstorbenen Schwester ist. Fluchtartig verlässt Harms das Haus der jungen Frau. Vergangenes und Gegenwart, die Determinanten seines Lebens, verwischen. Geschickt navigiert die Autorin durch die verschiedenen Ebenen. Harms irrt ziellos durch Meran, er landet im Bergwald es wird Nacht. Wie eine Lawine überrollt ihn nun die Trauer um seine Schwester Ulla, die Erinnerung an sie, die Kindheit im strengen, freudlosen Elternhaus und die Kinderlosigkeit der eigenen Beziehung mit Anke. Ein Psychogramm wird vor dem Leser aufgerollt: knapp, psychologisch feinfühlig und, zum Glück für das Buch, sehr lakonisch.
Dass Harms eine Chance hat, nach der schrecklichen Nacht im Wald, die ihn auch körperlich an den Rand seiner Existenz bringt, den Boden unter den Füßen wiederzufinden, ist der fairen, unprätentiösen und überraschenden Reaktion von Anke zu verdanken und nicht zuletzt der Fähigkeit zu einer befreienden Art von Galgenhumor, die Mareike Krügel ihren Figuren schenkt.
Claudia Biester, Autorenbuchhandlung Marx & Co., Frankfurt