Zum Buch:
In der Zweiten Marcellusflut des Jahres 1362, die auch die „Grote Mandränke“, das Große Ertrinken genannt wurde, verloren nach Schätzungen rund zehntausend Menschen ihr Leben. Als eine gewaltige Sturmfront auf die Westküste des heutigen Schleswig-Holstein traf, zog sich das Meer trotz Ebbe nicht zurück, woraufhin die anbrandenden Wellen zunächst die Deiche durchbrachen und schließlich auf einer Gesamtlänge von dreißig Kilometern alles mit sich in die Tiefe rissen. Weiler, Dörfer und ganze Städte verschwanden, darunter auch das durch Handel reichgewordene Rungholt. Die Gewalt des Meeres hatte die Landschaft in einer einzigen Nacht derart verändert, dass heutzutage niemand mehr mit Gewissheit sagen kann, wo genau sich unter dem endlosen Watt Rungholt einst befunden hatte.
Vormals stand auf der im Herzen Berlins gelegenen Spreeinsel das Stadschloss als Inbegriff norddeutschen Barocks. Während des Zweiten Weltkriegs größtenteils zerstört, wurde die restliche Anlage 1950 schließlich gesprengt und auf deren Fundament dreiundzwanzig Jahre später der Palast der Republik errichtet. Um die Grundsteinlegung des symbolträchtigen, fünfgeschossigen Gebäudes zeitgleich zum 9. Parteitag der SED zu ermöglichen, wurden weder Mühen noch Kosten gescheut, weshalb mitunter zweitausend Handwerker gleichzeitig vor Ort tätig waren, die neben italienischem Marmor, verchromten Armaturen und einer Bowlingbahn – der einzigen in der DDR und aus der Bundesrepublik importiert – auch 750 Tonnen Spritzasbest verarbeiteten, der seit 1960 in der Ostzone verboten war und lediglich durch eine Sondergenehmigung verwendet werden durfte. Mit dem Fall der Mauer seiner Daseinsberechtigung enthoben, wurde der Bau nach zähen Verhandlungen zum Abriss freigegeben und machte Platz für das Humboldt-Forum, in dessen Aula wenige letzte Zeugnisse enthalten blieben.
Geht man im Frankfurter Norden die kurze, schmucklose Straße An der Staufenmauer entlang, erinnert nur wenig daran, dass sich hier einst das erste Ghetto Europas befunden hatte: Die Judengasse. Ab Ende des 14. Jahrhunderts führte die zunehmende Diskriminierung von Menschen jüdischen Glaubens dazu, dass man sie aus den Städten verbannte und in abgetrennten Wohnvierteln außerhalb der Stadtmauern ansiedelte, wo sie unter ausnehmend schlechten Bedingungen in einfachen, mehrstöckigen Häusern zu leben hatten. Dreihundert Jahre und zwei verheerende Brände hatte die Frankfurter Judengasse überstanden, bis mit der Besatzung französischer Truppen 1792 auch neue Ideen Einzug hielten und Juden und Christen schließlich wieder gleichgestellt wurden.
Pia Volks Atlas ist eine Art gesamtdeutscher Reiseführer mit besonderer Note, der durch die kluge und beredte Sprache der Autorin dringend dazu einlädt, sich auf Entdeckungstour zu begeben. Denn selbst wenn sie längst von der Landkarte getilgt sind und kaum noch jemand sich an ihre Namen, ihre Geschichte erinnert: Im Gedächtnis der Zeit bestehen die verschwunden Orte fort.
Axel Vits, Köln