Zum Buch:
Damals, bei der Mutprobe im Waldhaus, hatte die Feuerwehr den Franzi nachher an den Beinen aus dem Brunnen fischen müssen. Kopfüber im Wasser hatte er gehangen, in seinem Bauch das Messer, der Dolch seines Großvaters, auf dessen Klinge der Schriftzug Meine Ehre heißt Treue eingeätzt war. Aber das ist lange her. Fünf Jahre, um genau zu sein. Und selbst wenn man erst elf ist, können fünf Jahre eine lange Zeit bedeuten. Noch dazu hier. In den Bergen.
Jetzt steht der Umzug in die Stadt an. Die Mutter will es so. Alles ist verkauft: Der Gasthof, die Wiesen und Obstbäume, das alte Waldhaus und selbst der mittlerweile zugeschüttete Brunnen. Was aber das Schlimmste ist, was am meisten weh tut, ist es, Luca anzusehen, deren Lieblingsspiel Entdecken immer erst dann beendet ist, wenn man am ganzen Körper dieses ameisenartige Kribbeln verspürt. Denn Luca bleibt hier. In den Bergen.
In Julia Josts Debütroman Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht begegnen wir der elfjährigen Ich-Erzählerin, die neben Luca, ihrer besten Freundin und heimlichen Liebe, unter einem Lkw im Gras liegt und die Menschen beobachtet, die ihren Eltern beim anstehenden Umzug in die Stadt behilflich sind. Aus ihrer unschuldigen Sichtweise beschreibt sie das eintönige, abgeschottete Leben im Dorf, wo sabbernde Altnazis das Wort führen, sich schwule Bauernsöhne vor Scham in der Scheune erhängen, die Eintönigkeit und das Ewiggestrige zur Tagesordnung gehören.
Normalerweise bin ich kein allzu großer Freund von Erzählungen oder Romanen, die aus der Sichtweise eines Kindes geschrieben sind. Weil es – für mich jedenfalls – meist nicht passt, nicht wirklich stimmig klingt. Bei Julia Jost ist das anders, denn hier ergibt sich ein großer Vorteil: Sie lässt ihre Ich-Erzählerin in einem derartig sprachgewandten, mitunter gewagten Furor erzählen, dass man gar nicht anders kann: man muss, man will das lesen. Und kann getrost darüber hinwegsehen, dass sie dabei hin und wieder etwas über die Stränge schlägt.
Axel Vits, Köln