Zum Buch:
Man muss schon ziemlich speziell sein, um 19, 29 oder sogar 44 Mal ein und denselben Vierzeiler zu lesen. Mehr enthält dieses wunderschön gestaltete Buch nämlich nicht. Aber wenn man anfängt zu lesen, wird schnell klar, dass die Nachdichtungen des kurzen Gedichts von Wang Wei aus der Tang-Zeit immer andere sind und ganz eigene Kontexte mit sich bringen. Das herauszuarbeiten ist die große Leistung Eliot Weinbergers, der in seinen pointierten, klugen und zuweilen spöttisch-humorvollen Texten die Übersetzungen und Nachdichtungen kommentiert und kontextualisiert. Nineteen Ways of Looking at Wang Wei entstand 1976 und erschien 1987 zum ersten Mal. Da immer wieder neue Übersetzungen hinzukamen, wurde es bis 2016 von Eliot Weinberger ergänzt. Beatrice Faßbender hat diese letzte Fassung übersetzt und durch Nachdichtungen deutschsprachiger Lyrikerinnen und Lyriker ergänzt. Ein wunderschönes Buch, das definitiv genug Stoff für die einsame Insel enthält.
Das Gedicht „Hirschpark“ von Wang Wei (ca. 700-761) beschreibt eine Landschaftsszene, deren komplexer und zugleich so einfacher Aufbau erst durch die Unterschiede in den Übersetzungen deutlich wird. Es geht um einen Berg, einen Wald, Licht und Moos. Was so simpel scheint, ist im Grunde das Schwerste überhaupt. Deshalb gelingt Eliot Weinberger mit diesem Buch weit mehr als nur die Nachzeichnung der Übersetzungsgeschichte des Gedichts: Er weist uns auf ein überholtes Kommunikationsparadigma hin, demzufolge Übersetzung nichts anderes ist als das Übertragen von Bedeutung von einer in eine andere Sprache. Tatsächlich, und das wird schnell deutlich, ist Übersetzung immer ein Problem der Zielsprache, seines Kontexts, seinen historischen Diskursen und Sprachtheorien. Weinbergers Buch wird damit zu einem Buch über das Lesen von Übersetzungen, über Übersetzungen und das, was sie leisten können, über das schwierige Verhältnis zwischen „Original“ und Übersetzung und über die Frage, was Übersetzung im neuen Kontext der Zielsprache macht.
Wesentlich zum Verständnis des Problems tragen Weinbergers Erläuterungen zur chinesischen Dichtung bei. Die zentrale Bedeutung, so Weinberger, lässt sich nicht an einzelnen Schriftzeichen festmachen, sondern ergibt sich immer nur über den Kontext – umso mehr, als im Chinesischen die Tonhöhe bedeutungstragend ist. Wichtig ist das Zusammenwirken, das Netzwerk an Bedeutung, nicht das einzelne Element. Das macht es natürlich viel schwerer, ein Gedicht aus dem Chinesischen ins Englische, Französische, Spanische oder Deutsche zu übersetzen, umso mehr, als das Chinesische weder Tempus noch Numerus festschreibt. Interessanterweise geht Weinberger davon aus, dass für eine gute Übersetzung von Wang Weis Gedicht Chinesischkenntnisse nicht notwendig sind. Die meisten Texte in Weinbergers Buch sind von Übersetzerinnen und Übersetzern, die selbst kein Chinesisch lesen können und sich an Interlinearübersetzungen orientieren. So habe zum Beispiel Ezra Pound in seiner Nachdichtung intuitiv die Fehler eines Sinologen korrigiert.
Weinberger erstellt unumwunden eine Art Rangliste der Übersetzungen und erläutert, warum er manche Übersetzungen für gelungen hält und andere nicht. Seine Polemik gegen gescheiterte Versuche macht ihn selbstverständlich angreifbar, eine Tatsache, auf die er selbst in einem Nachtrag eingeht, wenn er schmunzelnd beschreibt, wie ein „wütender Professor“ jahrelang Kritik an seinen Ausführungen übt. Eine gute Übersetzung ist für Weinberger eine, die auch in der Zielkultur bestehen kann, eine, die das Geschriebene nicht nur in die Zielsprache übersetzt, sondern auch in das Geistes- und Gefühlsleben des Lesers. Das Gedicht nämlich wandelt sich in der Lektüre des Lesers ständig, auch wenn er es in der Originalsprache lesen kann. Eine Übersetzung ist deswegen nicht abgeschlossen; sie ist ein Palimpsest, die über die vorherigen geschrieben wird, aber sie nie ersetzt.
Eine schöne Idee war es, Weinbergers „Arten“ mit deutschsprachigen Nachdichtungen zu ergänzen, die die Dichterinnen und Dichter selbst kommentieren. Darunter sind interessante und lustige Versuche wie der des Lyrikers Norbert Lange, der die Autokorrekturfunktion seines Smartphones sprechen lässt, Sarah Wipauers, die den Google-Übersetzungsdienst nutzt oder Hans Thills Metagedicht über seine Lektüre von Weinbergers Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten, die für die Leserin eine schöne Erinnerung an das zuvor Gelesene darstellt. Auch eine zukünftige Fortsetzung des Buchs mit 999 Arten Wang Wei zu betrachten wäre also nicht langweilig, sondern würde uns nicht nur mehr über Wang Weis Gedicht erzählen, sondern auch über unsere eigene Gegenwart. Und wenn es das nicht geben sollte, müssen wir eben das vorliegende Buch immer wieder lesen.
Alena Heinritz, Münster