Zum Buch:
“Seit diesem Tag hätten wir wissen müssen, dass die Geschichte nicht gut ausgeht“ –dem nasskalten Februartag, an dem der 15jährige Simon mit seinen Eltern vor dem Container auf einem heruntergekommenen Campingplatz im Rhein-Main-Gebiet steht, in dem sie die nächsten neun Monate verbringen werden. Simons Mutter ist arbeitslos, der Vater bringt als Wachmann nicht genug Geld nach Hause und sieht in dem Angebot, als Verwalter auf dem Campingplatz zu arbeiten, die einzige Chance, wenigstens das Auto zu behalten. Schließlich können sie in dem Container mietfrei wohnen, haben viel frische Luft und sogar Platz für einen Garten. Dumm nur, dass der Container eine Gesamtfläche von exakt 29 Quadratmetern hat, denn das heißt, dass die Möbel eingelagert und genaue Pläne gemacht werden müssen, was zum Leben unbedingt nötig ist und was nicht.
„Die Geschichte“ erzählt uns Simon selbst, mit der lakonischen Selbstverständlichkeit eines Jugendlichen, der seine Realität als gegeben hinnimmt und sich darin so gut wie möglich einzurichten versucht. Wir lernen den Vater kennen mit seinen großen Pläne, die regelmäßig fehlschlagen und durch neue ersetzt werden, die depressive Mutter, die allmählich erkennt, dass ihr Mann immer ein gescheiterter Glücksritter bleiben wird, und die im Frühjahr eintreffenden Dauercamper – darunter der ehemalige Boxer „Bubi“ Scholz, der Fahrlehrer Horst mit seiner Frau Petra, der Sizilianer Carlo und die Hellers mit ihrer hübschen Tochter Lisa, von der man sagt, sie bekäme bald eine eigene Fernsehshow, die „Glücksparade“. Und er macht uns mit einem Milieu vertraut, das im allgemeinen nicht als „literaturfähig“ gilt. Es ist eine trostlose Ansammlung von Menschen, die den Sommer auf dem Campingplatz verbringt: gescheiterte Existenzen, gescheiterte Ehepaare, geplatzte Illusionen. Am Ende der Saison löst sich Simons Familie auf: die Mutter zieht zurück zu ihren Eltern, der Vater bleibt nach einem Unfall mit dem Auto eine Nacht im Schnee liegen, um den Alkoholpegel zu senken, bevor die Polizei kommt, und für Simon beginnt etwas Neues – nicht die Zukunft, aber zumindest „die heutige Zeit, von der mein Vater immer sprach“.
Andreas Widman hat mit „Glücksspirale“ ein großartiges Debüt abgeliefert, einen Roman, der ganz aus seiner präzisen, rhythmischen Sprache lebt. Durch die unerbittlich genaue, aber nie wertende Perspektive des unbestechlich beobachtenden Jungen zeichnet er ein berührendes Bild der Gesellschaftsschicht, die in der zeitgenössischen Literatur viel zu selten vorkommt: den „Modernisierungsverlierern“ oder, noch abgehobener, dem „Prekariat“. Ein erstaunliches Buch, dem ich viele Leser wünsche.
Irmgard Hölscher, Frankfurt