Belletristik

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Buchempfehlung Belletristik

Autor
Wieland, Rainer

Das Buch der Tagebücher

Untertitel
Beschreibung

Über tausend Fundstücke voller Einsichten und Indiskretionen von mehr als 160 Autoren hat Rainer Wieland zu einem einzigartigen Buch komponiert: 500 Jahre Tagebücher in einem großen Diarium, das sich über 365 Tage von Neujahr bis Silvester erstreckt.

Verlag
Piper Verlag, 2010
Format
Gebunden
Seiten
704 Seiten
ISBN/EAN
978-3-492-05326-6
Preis
39,95 EUR

Zum Buch:

„Liebes Tagebuch!“ und: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. “Nachmittag  Schwimmschule“: Es ist zweifellos ein weiter Weg von den anonymen, mit krakeliger Schrift zu Papier gebrachten Herzensergießungen eines vorpubertären kleinen Mädchens zu der absurden, in zwei Sätze geronnenen Beschreibung einer epochalen Zäsur durch den überragenden Diaristen Franz Kafka.

Was beide verbindet, ist die völlig durchlässige literarische Gattung des Tagebuches, in der nichts zu gering und nichts zu groß ist, in der das Gemeine und das Erhabene seinen Platz hat, in der die private mit der öffentlichen Sphäre eine einzigartige Verbindung eingeht. Wenn man nach der Lektüre die Stimmen der 160 von Rainer Wieland im „Buch der Tagebücher“ versammelten  Autoren aus fünf Jahrhunderten in sich nachklingen lässt, stellt sich ein anhaltend befriedigendes Leseerlebnis ein: Die menschliche Seele stellt eine zerklüftete Landschaft dar, die sich zwar nie endgültig erschließt, aber in der Aneinanderreihung von Momentaufnahmen vorübergehend im Umriss sichtbar wird.

Der Herausgeber hat sie zu einem Panorama gefügt. Tag für Tag. Woche für Woche. Zwölf Monate lang wandert er mit dem Leser durchs Jahr und macht ihn mit den Einlassungen prominenter Persönlichkeiten vertraut: von Theodor W. Adorno über Anne Frank und Christopher Isherwood bis Stefan Zweig. Wer sie täglich liest, ist einerseits nie vor mehr oder weniger angenehmen Überraschungen sicher und findet andererseits in dem Konvolut einen anschmiegsamen Begleiter, der sich mühelos jeder Stimmungslage anpasst. Am 22.Oktober 1990 schlendert der notorisch schlecht gelaunte Hypochonder Peter Rühmkorf durch seinen Hamburger Kiez: „Ließ mich bei Sonne und kühlem Wind durch den Altonaer Rathauspark wehen, wo Türkenbuben mit riesigen Rettichnasen und verwilderten Schöpfen über die Blumenbeete radelten: unerfreuliches Alter, ungute Mienen, wenig erbaulicher Typus, roh und doof. Bei Durchqueren ’Kaufhof’ (Lebensmittel) auch nur abstoßende Anblicke: niederes, gehetztes Trachten nach Ware, listiges Erspähen von kleinen Vorteilen, Fußtritte oder barsche Hüftstöße gegen anderer Leute Einkaufswägelchen, dies Menschenbild…“

                Die junge, lebenshungrige Brigitte Reimann notiert am 12. November 1959 in Ost-Berlin: „Als ich heute früh die Asche aus dem Ofen nahm – feine, schneeweiße, zartblättrige Asche –, war ich töricht genug, zu staunen. Als hätte ich nicht damit gerechnet, dass sich die Zeugnisse von zehn Jahren in Staub verwandeln könnten … Ich bin so verwirrt, erfüllt von traumhaft-unwirklichen Empfindungen … Ich hätte diesen ganzen alten Plunder (an dem mein Herz hängt) nicht noch einmal lesen sollen. Nur die letzten Seiten im Tagebuch des vergangenen Jahres: ein junger und schöner Mensch mit herrlichen Augen, mit mageren, nervösen Händen, eine Begegnung wie keine andere zuvor.“                 Wer zwei Paar Hosen hat, sollte eine zu Geld machen und dieses schöne Buch anschaffen. Dass diese Empfehlung nicht auf dem Mist des Rezensenten gewachsen ist, tut der Sache keinen Abbruch. Lichtenberg und Tucholsky lassen grüßen und sind im „Buch der Tagebücher“ auch vertreten. Günter Franzen, Frankfurt am Main