Zum Buch:
Matthias ist vierzehn, als er Marta am Strand von Sylt zum ersten Mal sieht. Sie ist die Betreuerin seines jüngeren Bruders, dessen einziges Interesse bunten Bauklötzchen und geometrischen Formen gilt. Von diesem Moment an ist Matthias zwischen Liebe und Abhängigkeit hin und her gerissen, schlägt sich mit der quälenden Frage der Verantwortung gegenüber sich selbst oder seinem Bruder herum und mit dem Bedürfnis, jemandem zu vertrauen. Michael Wildenhains Roman begleitet Matthias Leben bis in die Zeit seines Studiums. Dort trifft er Martha nach Jahren wieder. Durch sie kommt er in Kontakt mit politisch radikalen Gruppen. Ihre Anziehungskraft bleibt für ihn ungebrochen, ihr Antrieb undurchsichtig, bis zu dem Tag, als plötzlich scheinbar alle Karten auf dem Tisch liegen. Ein Mord, oder eher eine Hinrichtung, markiert den ersten großen Bruch. Doch das ist keineswegs das Ende des Romans; die Beziehungen der Personen verändern sich bis zum Schluss.
Michael Wildenhains Schreibweise wirkt weniger psychologisch als graphisch. Er erschafft sehr eindrucksvolle Bilder, die den Kern der Szenen eher erahnen lassen, als dass sie ihn ausbuchstabieren. Beispielsweise die erste Szene des Romans, in der der dreizehnjährige Matthias versteckt hinter einer Düne durch ein Fernglas beobachtet, wie Martha einer Wespe den Kopf abbeißt und ins Meer spuckt: „Schon nach wenigen Minuten, die er im Versteck in den Dünen ausharrt, kann der Junge nicht mehr entscheiden, ob, was er meint gesehen zu haben, wirklich geschehen ist.“ So distanziert die Beschreibungen wirken, sie lassen Matthias immer wieder selbst zu Wort kommen. Es ist, als behalte er die Beobachterposition in den Dünen über die ganze Erzählung hinweg ein. Dabei ist er keineswegs unabhängig von dem, was er sieht. Der Kraft, der Faszination der Bilder ist er schutzlos ausgeliefert. Ohne dass der Roman dafür eine Erklärung bereithält, ziehen sie ihn vollkommen in ihren Bann.
In verschiedenen Besprechungen wurde die fehlende Tiefe der Charaktere in Wildenhains Roman kritisiert. Und tatsächlich bleiben sie in ihren Beweggründen, in ihrer Psychologie unscharf. Sie sind für den Leser wie für den Protagonisten nicht einzuschätzen. Doch gerade darin liegt die Besonderheit dieses Romans. Weil er sich der Psychologisierung der Personen verweigert, wird die poetische Lesart der Situationen fast erzwungen. Auch innerhalb der Handlung ist es gerade die fehlende Möglichkeit zur Einschätzung seiner Umgebung, die Matthias immer wieder verunsichert. Er begibt sich immer wieder in Abhängigkeiten, die sich am Ende als fatal erweisen, ob gegenüber seinem Onkel, den er nach dem Bruch mit seinem Vater zu seinem Stiefvater erklärt, oder gegenüber Martha . Die grundlegende Undurchsichtigkeit der Charaktere ist nicht etwa zufällig, sondern nur die Vorstufe zu der schlussendlichen Erkenntnis, dass das Gegenüber ein Anderer ist, als man geglaubt hat.
Das Lächeln der Alligatoren ist ein Buch, das auf seiner poetischen, bildhaften Ausdruckskraft besteht und damit die Leser ein Stück weit von der Erwartung entwöhnt, man müsse die Handlungen und Einstellungen der Personen innerhalb eines Romans verstehen und begründen können. Michael Wildenhains Roman verlangt, dass man sich von den Lesegewohnheiten des belletristischen Romans löst und der Poetik der Situation Raum lässt. Allein deswegen wäre dieser Roman schon lesenswert. Darüber hinaus vermittelt er aber auf eindrückliche Weise die Erfahrung von Vertrauen und Abhängigkeit, und wie nah sich beide sein können.
Theresa Mayer, autorenbuchhandlung marx & co, Frankfurt