Zum Buch:
Eine Kindheit Anfang der 60er Jahre in Berlin: eine muffige Miet- wohnung, der Vater kriegsversehrt, Fußballspielen im Park, später Flaschendrehen auf Klassenfahrt und natürlich das grüne Auge vom Radio. Versatzstücke einer scheinbar typischen Jugend dieser Zeit. Aber in der Familie des Jungen, die Michael Wildenhain hier be- schreibt, sind die Verletzungen der jüngsten Vergangenheit noch nicht ganz verdrängt. Die Mutter hat ein Geheimnis, das mit dem Mann zu- sammenhängt, den sie bei Besuchen ihrer im Ostteil der Stadt geblie- benen Familie trifft. Der Junge versucht dieses Geheimnis zu lösen. Als Kind hat er nur unzusammenhängende Puzzleteile: eine Gutenachtgeschichte, in der der Junge Günni vorkommt; ein Foto vom Nachttisch der Mutter. Als Teen- ager erzählt ihm die Mutter einen Teil der Geschichte in einer außer- gewöhnlichen Situation: Beide sitzen nach einem Besuch in Ostberlin, von dem sie wissen, dass es ihr letzter war, in getrennten Sperrholz- zellen der Grenzpolizei und warten. In dieser anonymisierten Situa- tion, fast einer Beichte ähnlich, kann die Mutter reden, ohne ihren Sohn direkt anzusprechen oder schauen zu müssen: Die Erlebnisse der Kriegsmonate, die sie zusammen mit dem Jungen Günter Hoppe ver brachte, die Flucht aus der Stadt vor den Bomben und wieder zurück vor der Roten Armee und wie sie dabei ihre eigene Mutter verlor. Das letzte Puzzleteil erfährt der Sohn aber erst nach dem Tod der Mutter und dem Mauerfall, als er endlich Günter Hoppe besucht und von dem gegenseitigen Verrat erfährt, der Günter und die Mutter den russischen Soldaten ausliefert. Michael Wildenhain hat ein atmosphärisch sehr dichtes Buch geschrie- ben. Besonders die Ostberliner Szenerie mit Laubenkolonien, ver- fallenen Bunkeranlagen und einem nahen Rangierbahnhof ist eindrück- lich eingefangen. Wildenhain schafft es, die Vergewaltigung der Mutter und deren Mutter, die ja Dreh- und Angelpunkt der Geschichte sind, nicht direkt zu beschreiben und gerade dadurch das unaus- sprechlich Schreckliche, das noch Jahrzehnte später in den Familien wirkt, um so deutlicher hervorzuheben. Nicole Eckert, ROSTA Buchladen, Münster