Zum Buch:
Jemand schrieb einmal über das Werk des späten Woody Allen, er würde eigentlich immer denselben Film drehen. Trotzdem wird man nicht müde, seinen in ihren Gedanken und Gefühlen herumirrenden Figuren dabei zuzuschauen, wie sie sich um Kopf und Kragen reden. Ähnliches könnte man von Henry James’ Romanen und Erzählungen behaupten, auch wenn man die Bedeutung ihrer Werke nicht vergleichen kann. Sie spielen zumeist in England, in den großen Städten des amerikanischen Ostens oder in Italien. Die Protagonisten entstammen der englischen Upper-Class, der amerikanischen Geldaristokratie oder dem etwas zwielichtigen italienischen Adel. Fast immer geht es um mögliche oder unmögliche Heiraten, verpasste Liebe oder um Täuschung und Selbsttäuschung. Trotzdem freut man sich über jedes Werk, das endlich auf dem deutschen Buchmarkt erscheint, als käme nun etwas sensationell Neues, und ist beglückt, wieder in das James’sche Universum eintauchen zu können. So ist es auch mit den sechs bisher noch nicht ins Deutsche übertragenen Erzählungen, die unter dem Titel „Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren“ im Frühjahr im Manesse Verlag erschienen sind – jede von ihnen wieder ein typischer James.
In der titelgebenden Erzählung trifft ein Offizier a.D. auf einen jungen Mann und glaubt, in ihm sein Ebenbild aus jungen Jahren wiederzuerkennen. Mr. Stanmer ist in die Tochter der verstorbenen Gräfin Salvi verliebt – der Frau, von der der Offizier sich einst verraten glaubte und die er trotzdem nicht vergessen konnte. Nun meint er, Stanmer, den er abwechselnd für „bedauernswert“, „unbedarft“ und „einfach gestrickt“ hält, sei auf dem Weg in die Netze einer „Circe“ – wie einstmals er selbst. Selbstgerecht und völlig blind für das Geschehen vor seinen Augen, glaubt er den jungen Mann lenken zu können, in dem er ihn ständig auf die Ähnlichkeiten zwischen ihnen hinweist – bis dieser sich völlig überraschend entzieht und sein Glück selbst in die Hände nimmt.
Da die Erzählung aus den Tagebuchaufzeichnungen des Offiziers besteht, gibt sie auch nur dessen Perspektive des Geschehens wieder. Die große Kunst von Henry James besteht darin, aus den Beobachtungen, Überlegungen, aufgezeichneten Dialogen und wiedergegebenen Briefen das vielschichtige Portrait eines unglaublich selbstgerechten, verbohrten und verknöcherten Mannes entstehen zu lassen, der bis zum Ende unfähig bleibt zu erkennen, dass er sein Lebensglück verfehlt hat.
Hier, wie in den anderen fünf Erzählungen, schildert James Menschen, die sich in geschlossenen Gesellschaftskreisen bewegen, in denen ein fester, unausgesprochener Verhaltenskodex gilt. Der kleinste Schritt vom Wege kann in eine Katastrophe führen. Die Figuren tanzen ein Gesellschaftsballett, dessen Schritte und Pirouetten nur die Eingeweihten kennen. Sie sind wie Spinnen, die feinste Vibrationen in ihrem Netz wahrnehmen. Dennoch – oder gerade deswegen – sind sie zumeist völlig unfähig, sich selbst und ihre wahren Gefühle zu erkennen und, wenn doch, danach zu handeln. James Meisterschaft besteht darin, den Leser erkennen zu lassen, was die Protagonisten nicht sehen können, ohne als allwissender Erzähler aufzutreten oder ihre Geheimnisse aufzulösen. Das zu lesen, ist immer wieder ein großer Genuss.
Ruth Roebke, autorenbuchhandlung marx & co., Frankfurt