Zum Buch:
Finn ist zehn und lebt mit seiner Mutter in einer der neuen Sozialbausiedlungen in Oslo. Das Geld ist knapp, der Vater hat nach der Scheidung eine andere Frau geheiratet und ist dann bei einem Unfall ums Leben gekommen. Finn vermisst ihn nicht; er genießt es, der Mann im Haus zu sein. Deshalb ist er auch nicht besonders glücklich, als die Mutter beschließt, ein Zimmer zu vermieten, aber es hilft, dass der neue Untermieter einen Fernseher mitbringt, den er nicht etwa in seinem Zimmer, sondern im Wohnzimmer aufbaut. Der Einzug des Untermieters bleibt nicht die einzige Veränderung in diesem Sommer, denn plötzlich und ohne Vorwarnung gibt die zweite Frau des Vaters ihre etwa sechsjährige Tochter bei ihnen ab, weil sie selbst ins Krankenhaus muss und nicht weiß, wohin mit dem Kind. Begeistert ist Finn nicht über seine etwas merkwürdige Halbschwester Linda, die ein wenig zurückgeblieben wirkt und kaum sprechen kann, aber nach und nach wächst er in die Beschützerrolle hinein. Das ist auch nötig für sein Selbstbewusstsein, denn in diesem Sommer gerät das bis dahin so harmonische Verhältnis zu seiner Mutter immer mehr aus den Fugen. Finn versteht die Erwachsenen einfach nicht mehr – und sie ihn auch nicht. „Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte“, verändert Finns Leben – und ein klein wenig auch das der Leser, die den kindlichen Protagonisten bei seinen Abenteuern begleiten.
Roy Jacobsen, der mich schon mit seinem im letzten Jahr erschienenen „Das Dorf der Wunder“ völlig verzaubert hat, hat erneut ein kleines Meisterwerk vorgelegt. Auf gänzlich unaufdringliche Weise entführt er die Leser in die Aufbruchszeit der sechziger Jahre, auf die – im wörtlichen Sinne – „Baustelle“ des skandinavischen Sozialstaats mit seinen guten – anständiges Wohnen für wenig Geld – und seinen schlechten Seiten – den „fürsorglichen“ staatlichen Eingriffen ins Privatleben. Jacobsen fesselt mit einer so kunstvollen wie unaufdringlichen Sprache, mit scheinbar einfachen, aber hochkomplexen Geschichten, die beim Lesen ganze Welten aufschließen. Eine echte Entdeckung.
Irmgard Hölscher, Frankfurt am Main