Zum Buch:
In den Staaten ist er längst ein gefeierter Autor, ein Mann aus ärmlichen Verhältnissen, der es schließlich bis ganz nach oben geschafft hat. Doch ist er sich im Klaren darüber, dass Ruhm und schnelles Geld nur allzu flüchtig sind und ihn daher auf Dauer nicht ausfüllen werden; er will mehr, er will wachrütteln, will aufmerksam machen. Also reist er im Sommer 1902 in die britische Hauptstadt, um inkognito über die katastrophalen Verhältnisse in den Armenvierteln des East End zu berichten. Damit er nicht weiter auffällt, ersteht er bei einem Lumpenhändler eine speckige Jacke und alte, mehrmals geflickte Hosen, näht sich zu Sicherheit ein Goldstück in den Hemdbund ein und macht sich ansonsten ohne einen Penny in der Tasche auf den Weg.
Wie behauptet wird, soll Jack London nie sehr phantasiebegabt gewesen sein, was das freie Erfinden von Charakteren und Handlungssträngen anging, im Grunde genommen soll er immer nur ein genaues Abbild der Wirklichkeit zu Papier gebracht haben, vergleichbar mit einem Maler von Stillleben oder Portraits. Heute weiß man mit Sicherheit, dass er mitunter sogar ganze Plots von befreundeten Kollegen wie Sinclair Lewis abgekauft hat. Doch kommt dem Leser von „Menschen der Tiefe“ gerade diese besondere Gabe Londons, nämlich das Gesehene, die nüchterne, ungeschminkte Wahrheit in Worte zu fassen, nur zugute: Er schaut nicht weg, im Gegenteil, gerade dann, wenn es richtig eklig und schmutzig wird, steckt er seine Nase noch tiefer hinein.
Was er dann sieht, ist eine Stadt der fürchterlichsten Einsamkeit, wo die Farbe des Sommerhimmels grau und schmutzigbraun ist. Er übernachtet in Asylen und Armenhäusern, allesamt verlauste kleine Löcher, in denen die Betten nach dem Drittelsystem vergeben werden, d. h. ein Bett für drei Männer, für jeweils acht Stunden, so dass es nie kalt wird. In überfüllten Speiseanstalten erhält er nach stundenlangem Anstehen einen halben Teller wässriger Grütze, dazu einen Kanten Brot, sauer und hart. Die Menschen, die ihm auf seinen Streifzügen begegnen, sind ausnahmslos dürre, schwindsüchtige Schatten in Lumpen, ihre kranke Blässe wie ein Erkennungszeichen; Männer mit eingefallenen Wangen und tief liegenden, allen Glanzes beraubten Augen, Frauen, gebrochen, ausgemergelt und vor der Zeit ergraut, die schmutzigen Hände ausgestreckt, bettelnd an Ecken stehend, die Schreie der an ihren Rockzipfeln zerrenden kahlgeschorenen, unterernährten Kinder ignorierend, deren Gesichter ihm vorkommen wie greisenhafte Masken. Spielen sieht er die Kleinen nie.
„Menschen der Tiefe“ ist eine Sozialstudie von besonderer Qualität, gerade oder eben weil Jack London nur das Selbstgesehene, das Selbsterlebte beschreibt, scharfsinnig und ganz ohne Zierrat, deshalb aber nicht kalt oder teilnahmslos, er ist mittendrin, ist Teil des Ganzen. Und er scheut sich nicht zu verurteilen, wachzurütteln, aufmerksam zu machen. Im Grunde tut er genau das, was er am besten kann.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln