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Abgezehrt, vor der Zeit gealtert, in der eisigen Kälte in speckige Lumpen gekleidet, lungenkrank und von der harten Arbeit in den Wäldern gezeichnet, schloss sich der Schatten, der sich einst Julius Margolin nannte, an das hintere Ende der vor der Essensausgabe stehenden Männer an, und als die Reihe schließlich an ihm war, nahm er schweigend eine Blechschale entgegen, in der Fetzen von schwarzem, bitterem Kohl in lauwarmem Brackwasser schwammen.
Seine einzige „Mahlzeit“ an diesem Tag.
Er hatte sein Soll wieder nicht erfüllt.
Sein Schatz, ein Kanten harten Brots, den er sich für die Nacht aufgespart hatte und den er gut genug versteckt zu haben glaubte, sollte ihm noch im Verlauf des Tages gestohlen werden, aber davon ahnte er in diesem Moment noch nichts. Er suchte sich eine abgelegene, windgeschützte Ecke auf der Rückseite der Baracken, ging in die Hocke und schlürfte die magere Suppe direkt aus dem Napf. Schweigend, jeden Schluck auskostend, jeden Moment darauf bedacht, das Wenige verteidigen zu müssen. Und als er die Schüssel ausgeleckt hatte, wischte er sich über den Mund, überlegte, dachte an das Brot, und ob er wirklich solange warten könne, und noch mit sich selbst hadernd beging er den Fehler, Bilder einer Vergangenheit aufkommen zu lassen, die in seiner Erinnerung endlos weit zurück lagen. Bilder seiner Frau. Seines Kindes. Bilder eines Lebens. Er versuchte erst gar nicht, die Tränen zurückzuhalten.
Drei Jahre zuvor. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hält sich der Jude Julius Margolin in Lodz auf. „Dieser erste Septembertag begann in Lodz mit einem ganz normalen Morgen.“
Geboren ist Margolin im polnischen Pinsk, lebt aber mit seiner Familie seit einiger Zeit in Palästina: hier in Lodz ist er also mehr oder weniger nur zu Besuch. Als er vom Einmarsch der deutschen Wehrmacht sowie von den Luftangriffen über Warschau und Krakau erfährt, ergreift er wie Zigtausend andere die Flucht Richtung Osten, den vermeintlichen russischen Befreiern entgegen. Sein Ziel ist der Schwarzmeerhafen Constanza, von dem aus er sich nach Haifa einschiffen will. Da er als palästinensischer Staatbürger auch einen britischen Pass besitzt, rechnet er damit, an den Grenzen auf wenig Probleme zu stoßen.
Das Gegenteil ist der Fall. Die nächsten fünf Jahre verbringt Margolin in russischen Strafgefangenenlagern entlang des Weißmeer-Ostee-Kanals, und allein durch einen Zufall, wie ihn nur das Leben selbst hervorbringen kann, überlebt er dieses Martyrium.
Julius Margolins erstmals 1949 erschienener Augenzeugenbericht geht jedoch weit über ein reines Zeitdokument hinaus, er ist vielmehr ein regelrechter Aufschrei, der sagen will „Hier! Seht euch das an! Das habe ich erlebt! Dies sind Menschen bereit, anderen Menschen anzutun!“, die Geschichte eines Menschen, der schreibend gegen das Vergessen ankämpft.
Ein wichtiges, ein nötiges Buch also.
Axel Vits, Der andere Buchladen, Köln