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Es war an einem verregneten Sonntag, als der Sprach- und Literaturforscher Daniel Mendelsohn gemeinsam mit seiner Schwester und den beiden Brüdern in dem ukrainischen Dorf Bolechow ankam. Es war der 12. August 2001. Fast genau sechzig Jahre zuvor, am 28. und 29. Oktober 1941, fanden hier, nachdem die Wehrmacht im August in den Ostteil Polens einmarschiert war, die ersten Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung statt. An diesen beiden Tagen wurden etwa eintausend Menschen ermordet.
So auch ein Jude namens Shmiel Jäger, ein erfolgreicher Kaufmann im damals noch polnischen Bolechow. Shmiel Jäger war der älteste Bruder von David Mendelsohns Großvater. Er wurde, gemeinsam mit seiner Frau und den vier jungen Töchtern, von den Nationalsozialisten umgebracht. Ein Thema, über das man selbst im innersten Kreis der Familie Stillschweigen bewahrte und über das man, wenn überhaupt, nur im Flüsterton zu reden wagte.
Dass sich das irgendwann ändern sollte, begann wohl damit, dass sich der damals sechsjährige David, wenn er einmal wieder zu Besuch bei der jüdischen Großfamilie in Florida war, immer öfter fragte, warum viele der alten Menschen bei seinem Anblick prompt zu weinen anfingen. Der Grund: Er sah dem jugendlichen Shmiel zum Verwechseln ähnlich.
Davids in den Staaten lebender Großvater war immer schon ein beredter Geschichtenerzähler, ein schier unerschöpflicher Quell von manchmal nicht ganz stubenreinen Anekdoten; die beiden standen sich auch persönlich sehr nahe, doch immer, wenn David auf das Thema Shmiel zu sprechen kam, verdüsterte sich der Blick des alten Mannes. Dann schwieg er lange.
»All diese Geschichten, die mein Großvater mir erzählte, all diese Dinge, aber nie sprach er über seinen Bruder und seine Schwägerin und die vier Mädchen, die für mich weniger tot als verloren waren, nicht nur aus der Welt verschwunden, sondern was für mich noch schrecklicher war auch aus den Geschichten meines Großvaters.«
Was dann folgte, waren dreißig Jahre intensiver Nachforschung und Bemühung, angefangen mit ein paar Hundert handgeschriebenen Briefen, eher Fragebögen, die der junge Mendelsohn an alle ihm bekannten Familienmitglieder und die infrage kommenden Institutionen verschickte. In den folgenden Jahren reiste er nach Australien, Israel, Österreich, nach Prag, Vilnius und Riga. Und an diesem verregneten Sonntag 2001 nach Bolechow. Immer auf der Suche nach den Verlorenen.
Wie sein Großvater ist auch David Mendelsohn ein exzellenter Erzähler, ein Bewahrer der Erinnerung, dem man von der ersten Seite an quasi an den Lippen hängt. Am Beispiel der biblischen Geschichte von Kain und Abel und mit einer kurzen, verständlichen Einführung in jüdische Geschichte sowie deren Bräuche, schildert Mendelsohn in seinem Bemühen um die wahren Umstände der verloren gegangenen Menschen eine Reise, die auch eine Reise zu sich selbst ist.
Axel Vits, Der andere Buchladen Köln