Zum Buch:
Sommerferien in einer Ansammlung von Ferienhütten an einem See in Schottland. Es regnet. Nicht in dem üblichen schottischen Maß, sondern tagelang, ununterbrochen und heftig. Die Feriengäste – alte Ehepaare, junge Familien, gelangweilte Teenager, genervte Eltern – hocken aufeinander, beobachten, in Ermangelung äußerer Aktivitäten, die jeweils anderen und machen sich ihren Reim auf das, was sie sehen. Alle suchen nach Möglichkeiten, etwas Abwechslung in die eintönigen Tage zu bringen und der Enge in den Hütten zu entgehen.
So die vierzigjährige Justine, die sich, so oft sie kann, für eine Stunde von ihrer Familie wegstiehlt. Dafür steht sie in aller Frühe vor allen anderen auf, um selbst bei Regen und Kälte joggen zu gehen. David, Arzt im Ruhestand, der sich viel darauf zugute hält, körperlich und geistig noch fit zu sein, nutzt die frühen Morgenstunden, um mit einer Tasse Kaffee in der offenen Terrassentür zu sitzen, bevor seine gebrechliche Frau Mary wach wird. Mary, die schon längst wach ist, versucht, sich in der verwirrenden Welt ihrer zunehmenden Demenz zurecht zu finden. Der sechzehnjährige Alex wagt sich trotz des heftigen Windes mit seinem Kajak auf den stürmischen See und schafft es nur mit Müh und Not wieder zurück ans Ufer. Jon schenkt seiner Frau Claire eine Stunde Zeit, geht mit den Kindern in den Regen nach draußen, während sie vor lauter Stress die geschenkte Zeit sinnlos verplempert. Lola und ihr jüngerer Bruder Jack werden von ihrer entnervten Mutter raus an den See zum Spielen geschickt, wo sie auf das kleine Mädchen aus der Hütte mit den Bulgaren treffen – oder sind es Russen, Rumänen, Ukrainer? Fremde jedenfalls, die hier nicht hingehören und von deren lärmenden nächtlichen Feten sich alle gestört fühlen.
Sämtliche Personen, die der Leser in diesem Roman kennenlernt – und es sind mehr als die oben vorgestellten –, sind Gefangene des Ortes und gleichermaßen Gefangene ihrer selbst. Eine Handlung im strengen Sinne hat Sommerwasser kaum. Der Text ist ein fließender Wechsel von Erzählung, direkter Rede, Beobachtungen und dem Bewusstseinsstrom der Personen, in deren Köpfen sich der Leser befindet. Was sich darin abspielt, sind die Abgründe des Alltäglichen: Langeweile, Wut, Verzweiflung, Rassismus, aber auch verzweifelte Komik – und manchmal Güte und Freundlichkeit. Die bewusst im Ungefähren belassenen Stimmungen und die offenen Situationen erzeugen eine irritierende Atmosphäre. Verstreute kleine Zeichen und Querverweise verdichten sich beim Lesen langsam zu einem Gefühl unguter Erwartung. Sukzessive rutscht man bei der Lektüre in die gleiche Position wie die handelnden Personen und beginnt, die Leerstellen des Textes mit eigenen Spekulationen auszufüllen.
Sommerwasser ist einer dieser kleinen, feinen Romane, die trügerisch leicht und unterhaltsam daherkommen, aber zunehmend eine Dynamik entwickeln, die einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen lässt und lange nachwirkt.
Ruth Roebke, Frankfurt a.M.