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Mädchen ohne Kleider

Autor
Stepanova, Maria

Mädchen ohne Kleider

Untertitel
Gedichte. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Beschreibung

Die russische Lyrikerin Maria Stepanova zählt unbestritten zu den wichtigsten Stimmen der Poesie der Gegenwart. Auch ihr neuer, schmaler Gedichtband, der drei einander verwandte Zyklen umfasst, birgt eine ebenso eindrucksvolle wie dichte Leseerfahrung. Zentral stehen Themen wie sexueller Missbrauch, Weiblichkeit, Aneignung und Gebrauch. Wie schon in anderen Bänden zuvor beweist Stepanova eine Meisterschaft der Deutlichkeit, in deren Untergrund eine poetische Kraft nahezu unsichtbar, aber unaufhaltsam wirkt.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Suhrkamp Verlag, 2022
Seiten
69
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-518-43060-6
Preis
23,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Maria Stepanova, 1972 in Moskau geboren, ist die international erfolgreichste russische Dichterin der Gegenwart. Für ihr umfangreiches lyrisches und essayistisches Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet. Ihr Prosadebüt Nach dem Gedächtnis (2018) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie lebt in Moskau.

Zum Buch:

Der erste Zyklus gibt dem Band seinen Namen: Mädchen ohne Kleider ist mit seinen klaren Bildern, die einen zugreifenden, sexualisierenden, einen männlichen Blick auf junge weibliche Körper variieren, teilweise nur schwer zu ertragen. Das liegt insbesondere an der beklemmenden Stimmung, die das Gedicht auch jenseits seines Inhalts durch die poetische Durchführung des Wiederholungsmotivs erzielt. „Immer ist da eine Jahreszeit, … Immer ist Frühling, … Immer fünfzehn … Immer sind irgendwo Mädchen ohne Kleider“, so reihen sich die Anfangsverse der Strophen aneinander. Auf der inhaltlichen Ebene lässt der „aufregend unromantische“ Stil Stepanovas (Helmut Böttiger, Deutschlandfunk 3.6.22.) keinen Zweifel daran, dass es in diesem Gedicht um nichts anderes als um Vergewaltigungen geht, und zwar nicht in ihrer schmerzhaften Erfahrung als einzelne, sondern als kollektives, weibliches Wissen. Poetisch virtuos wird dieses Gedicht nicht durch signifikatorische Ambivalenz, sondern dadurch, dass die Stimmen der Täter mit Selbstbeobachtungen oder außenstehenden Beobachtungen verschwimmen.

Das poetische Verfahren, metaphorische Allgemeinplätze, die mitunter an Klischees grenzen, durch genaue und graduelle Verschiebungen zu verunsichern und so zu einer neuen Stimme kommen zu lassen, ist eines, das typisch ist für Stepanovas Lyrik und das sich in den beiden anderen Gedichten wiederfindet. Dabei war für mich der mittlere Sonetten-Zyklus (ungereimt) der Höhepunkt des schmalen Bandes: Kleider ohne uns greift augenscheinlich das Motiv der entkleideten Mädchen wieder auf und wendet es in das Bild abgelegter, ungetragener, leerer Kleidung als Anthropomorphismus. Die Annäherung an die Kleidung als Eigenleben erschöpft sich nicht einer Allegorie des Weiblichen, sondern verweist darüber hinaus auch auf eine Emotionalität des Gebrauchs, die an die lyrischen Arbeiten Martina Hefters erinnert. Den Leitfaden der Sonette bildet die zu Beginn stehende Aufforderung: „Teile sie ein, warum nicht, nach Gattung und Art.“ Die Kategorisierung als poetische Form wird im Gedicht zum spürbaren Insignium der Zeitgenossenschaft, das Gebrauch, Herstellung und Entsorgung im Kontext von Massenproduktion, Konsum und Totalität erscheinen lässt. Erstaunlich ist, dass es Stepanova gelingt, dabei einen romantisierenden Antikapitalismus zu vermeiden, so dass die erwähnte Kategorisierung keine dramatische Empörung, sondern Nüchternheit ausstrahlt.

Zuletzt sei noch die großartige Übersetzung aus dem Russischen durch Olga Radetzkaja erwähnt. Wie auch schon im vorhergegangenen Band Der Körper kehrt wieder (suhrkamp, 2020), beweist sie ein feines Gespür für Stepanovas schnörkelose Sprache gradueller Verschiebungen.

Theresa Mayer, Frankfurt