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Schule des Südens

Autor
Erdur, Onur

Schule des Südens

Untertitel
Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie
Beschreibung

Sie fasziniert im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten Kultur und Politik: Die sogenannte „französische Theorie“. Über ihr Wesen und darüber, welchen konstruktiven Beitrag sie eigentlich leistet, ist mindestens ebenso lange gestritten worden.

Onur Erdur spricht nun mit seinem neuen Buch über die Schule des Südens genau das an, was vor dem Hintergrund der eruopäischen Art und Weise, Geistesgeschichte zu schreiben, lange unbeachtet blieb: Dass sich nämlich die „französische Theorie“ mitnichten allein einer westlichen Erneuerung verdankt, sondern ihre Wurzeln vielmehr in kolonialer Unterdrückung hat. Anhand von acht einzelnen biographisch-philosophischen Skizzen zeigt Erdur, welchen Einfluss die Herkunft aus, die Beschäftigung mit oder manchmal auch die Sehnsucht nach der kolonialen Erfahrung auf das hatte, was sich später zu Strukturalismus, Dekonstruktion und Postmarxismus verdichten sollte.
(ausführliche Besprechung unten)

Verlag
Matthes & Seitz Berlin, 2024
Seiten
335
Format
Gebunden
ISBN/EAN
978-3-7518-2020-2
Preis
28,00 EUR
Status
lieferbar

Zur Autorin / Zum Autor:

Onur Erdur, 1984 in Diyarbakir geboren, ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er forscht und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Fragen der globalen Ideengeschichte.

Zum Buch:

Sie fasziniert im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten Kultur und Politik: Die sogenannte „französische Theorie“. Über ihr Wesen und darüber, welchen konstruktiven Beitrag sie eigentlich leistet, ist mindestens ebenso lange gestritten worden. Und zwar bis hin zu der Frage, was im Zeitalter der rapiden Multiplikation von symbolischen Verweisungssystemen überhaupt einen konstruktiven Beitrag darstellen kann – und ob gerade die beschleunigte Reproduktion von Weltbildern nicht eher nach deren Kritik und Irritation – mit einem Wort: Dekonstruktion – verlangt. Mit dieser Hoffnung auf einen neuen Zyklus intellektueller Erneuerung, der nun wieder an eine seiner ureigensten Orte heimgekehrt schien und vor allem jenen der Aufklärung, des Liberalismus und des kriselnden Marxismus in nichts nachstehen sollte, hat die scheinbar spezifisch französische Art, sich auf die sozialen und politischen Phänomene ihrer Zeit einen Reim zu machen, an vielen Orten auf der ganzen Welt Resonanz ausgelöst, und dabei sowohl bedingungslose Bewunderung als auch unnachgiebige Kritik hervorgerufen. Eine große Hoffnung, die – so haben Andere bereits argumentiert – zu diesem Zeitpunkt wichtiger war, als viele kleinteiligere Details.

Soweit zumindest eine ganz bestimmte Vorstellungswelt, die ihre Plausibilität in nicht geringem Maße von einer ordentlichen Dose Eurozentrismus gewinnt. Denn die globale Realität sah für viele Menschen anders aus, als es die westliche intellektuelle Aufbruchsstimmung nach dem Weltkrieg aus heutiger Betrachtung vermuten lässt. Mehr oder minder ungebrochen hatte der Westen seine vorherige koloniale Weltordnung wiederhergestellt, nachdem die Weltmeere von den Flottillen der Achsenmächte befreit waren. Frankreich bildete hier keine Ausnahme: Der Krieg, der auch in Nordafrika mit großer Härte geführt worden war, hatte den Menschen dort keine Unabhängigkeit, keine Befreiung gebracht. Im Gegenteil wurden solche Unabhängigkeitsbestrebungen, z.B. in Algerien, mit Brutalität unterdrückt.

Onur Erdur spricht nun mit seinem neuen Buch über die Schule des Südens genau das an, was vor dem Hintergrund der eruopäischen Art und Weise, Geistesgeschichte zu schreiben, lange unbeachtet blieb: Dass sich nämlich die „französische Theorie“ mitnichten allein einer westlichen Erneuerung verdankt, sondern ihre Wurzeln vielmehr in kolonialer Unterdrückung hat. Anhand von acht einzelnen biographisch-philosophischen Skizzen zeigt Erdur, welchen Einfluss die Herkunft aus, die Beschäftigung mit oder manchmal auch die Sehnsucht nach der kolonialen Erfahrung auf das hatte, was sich später zu Strukturalismus, Dekonstruktion und Postmarxismus verdichten sollte.

Dabei bleibt Erdur nicht bei vagen Andeutungen, sondern spürt den Details der jeweiligen Lebens- und Arbeitserfahrungen minutiös nach. So erfährt man nicht nur von Jean-François Lyotards Tätigkeit als klandestiner Kofferträger für den algerischen Front de Libération Nationale, sondern von seinem Konflikt mit der „mission civilatrice“, also der Vorstellung, das von Frankreich bestimmte algerische Schulsystem – in dem Lyotard angestellt war – sei dazu bestimmt, den Geist französischer Zivilisation und Universalismus zu verbreiten. Erst die Desillusionierung des so offensichtlichen Widerspruchs zwischen den universellen Werten und der Fremdbestimmtheit, mit der sie den Menschen eingepaukt werden sollte, macht verständlich, warum Lyotard später die ganz unumstößliche Skepsis gegen jeden einzelnen universalistischen Großdiskurs entwickelte, mit der er in die Philosophiegeschichte eingehen sollte. Auch in der Arbeit von Hélène Cixous spielen die identitätsbildenden Faktoren, die sich als Urszenen der Überkreuzung von französischem Kolonialrassismus und Antisemitismus beschreiben lassen, eine große Rolle.

Nicht alle der von Erdur erzählten Episoden sind neu und unbekannt. Dass etwa Bourdieus Denken von seiner Erfahrung als Kolonialsoldat beeinflusst war, war immer wieder Gegenstand von Einführungen in seine Soziologie und ist durch die Veröffentlichung seiner Algerischen Skizzen in Buchform auch leicht einsehbar. Erdurs Leistung besteht vielmehr darin, nicht die einzelnen philosophischen Positionen und ihre Quellen, nicht vereinzelte Anekdoten, sondern die Geschichte der französischen Theorie im Ganzen aus dieser Sicht ein kleines Stück weit begreiflich zu machen.

Eine Empfehlung für LeserInnen von Philipp Felsch, Heike Delitz, Laurent Binet oder des kürzlich verstorbenen Fredric Jameson, dessen The Years of Theory: Postwar French Thought to the Present erst im Oktober erscheinen wird.

Florian Geisler, Frankfurt